Eine merkwürdige Liebesgeschichte

Als ich den „Sturz" las, stieß ich auf eine Geschichte, die eigentlich keine ist - aber in meinem Kopf war sie immer eine: Die Geschichte eines Mannes, der, weil er selbst in eine Katastrophe gerät, in eine ökonomische und damit auch in eine private, wie ein Magnet Katastrophen um sich herum anzieht. Und diese Katastrophen muss er nun ununterbrochen bewältigen - und er tut das auch.


Mich hat interessiert, wie ein Mann zusammen mit seiner Frau es schafft, die Idee vom privaten Glück und von der großen Liebe über alle Katastrophen hinweg zu retten. Wie das geht, weiß ich nicht, und das erzählt auch der Film nicht: Der Film erzählt nur, dass es geht. Im Unterschied zum Roman, in dem diese Apotheose der großen Liebe nur eine Art faustischer Abgesang ist, wurde sie bei mir das Thema des Films.


Das heißt: Es ist eine ganz merkwürdige Liebesgeschichte geworden. Merkwürdig, weil sie zwischen einem Ehepaar stattfindet, das bereits fünfzehn Jahre verheiratet ist, drei Kinder hat und sich eigentlich dauernd prügelt. In dieser Konstellation ist eine Liebesgeschichte eigentlich unmöglich, es spricht alles dagegen - und trotzdem findet sie statt.

Wir leben heute in einer Irrenhaus-Atmosphäre, die ganz konkret hier herrscht, wenn man die täglich in der Boulevard-Presse abgedruckte Wirklichkeit wirklich ernst nimmt.


Die Irrenhaus-Atmosphäre versucht ununterbrochen, eines unmöglich zu machen: Glückssituationen spontan zu erleben, Glückssituationen für sich zu retten. Ich wollte ausprobieren, ob das geht - ich hoffe, es ist mir gelungen. Ich wollte eine Liebesgeschichte erzählen, der eigentlich nichts im Wege steht - nur: Sie passiert in einer Welt, die von ihrer eigenen Ökonomie vollkommen bestimmt ist. Diese extreme Situation ist der heutige Alltag, so wie ich ihn selbst empfinde und erlebe.


In der Vorbereitungszeit für den Film habe ich mich beispielsweise hier in München mal auf die Spuren eines solchen Verlierers begeben, wie es der Anselm Kristlein im „Sturz" ist. Ich habe einfach mal so ein paar Wege gemacht, von denen ich weiß, dass sie die Leute machen, die sozusagen ökonomisch und psychisch am Ende sind. Von der Mathäser-Bierstadt um 11 Uhr morgens bis zum hintersten Porno-Schuppen um 1 Uhr nachts: Das ist eine Darstellung von Unglück und Unbehagen in unserer Kultur, die hat einfach Welttheater-Format.


Ich habe versucht, den alltäglichen Wahnsinn und das alltägliche Elend von Leuten, die in irgendeiner Weise gescheitert sind, nicht als Dokumentarspiel oder als abgesicherte, legitimierte Tragödie zu bringen. Es ist die Geschichte eines Mannes, der vierzig Jahre alt ist, seinen Job verliert, wahrscheinlich keinen neuen mehr kriegt und das kleine Vermögen, das er hat, auch noch verliert, dessen Frau zu ihm sagt: Was ist jetzt? Und dessen Kinder durch die Gesellschaft schon deformiert sind - diese Geschichte, die so und ähnlich heute ununterbrochen passiert, ist grauenhaft wahr und realistisch. Aber ich will nicht nur zeigen, was realistisch ist, sondern ich will auch zeigen, wie es sich in einer neuen Qualität aufheben kann. Zeigen, was sein könnte oder sein müsste. Ich versuche, die Siege zu feiern, die Menschen trotz ihrer Niederlagen haben könnten.


Irgendwann müssen wir wieder einmal lernen, Märchen über uns zu erzählen, weil Märchen eine höhere Wahrheit haben als die, die wir durch Zeitungen und Fernsehen geliefert bekommen. Märchen bringen eine Veränderung der Sicht auf die Wirklichkeit. Sie schaffen eine größere Wahrheit als sie die Wirklichkeit selber liefert. Im „Sturz" ist auch eine gewisse Art von Magie, wie in jedem Märchen. Sie wird erkennbar, wenn man den eigenen Blick schärfer auf die Wirklichkeit richtet. Wenn alle Leute so sehen würden, wie ihre Phantasie es ihnen erlaubt - und nicht, wie es die anerzogene Vernunft verlangt -, dann könnte die Welt anders aussehen, als sie aussieht.


In meinem Film haben alle einen anderen Rhythmus als das Schicksal, hier gemeint als ökonomische Situation. Wenn ein Zeitschriftenabonnement-Werber davon redet, dass ein Kollege von ihm diesen Job ausführt, weil er 600.000 Mark für eine Herzoperation braucht, dann ist für mich der Punkt der Komödie erreicht. Denn dieser Mann hat einen so anderen Rhythmus, ein so anderes Tempo als die Welt um ihn herum, man kann sagen, es ist so irreal -aber für den Mann, der das macht, ist das ja ganz real. Wir Deutschen haben unsere Schwierigkeiten im Umgang mit der Banalität: Deutsches Show-Business, deutsches Schlager-Business, das ist eine traurige Unfähigkeit im Banalen. Gerade der Film aber könnte die Banalität liebevoll pflegen.


Wenn man eine Komödie macht, wenn man versucht, Leute zu zeigen, die einen Anti-Rhythmus haben gegen ihre Situation, dann muss man natürlich auch den einfachsten, den banalsten Gefühlen glauben. Denn in einer immer komplizierteren Welt erzeugt schon ein ganz simples Gefühl einen Anti-Rhythmus. Wenn ich mir Leute anschaue, die so cool sind, dass sie von Liebe und Gefühlen gar nicht mehr reden können, dann sind sie für mich zwar konsequente, aber doch in Wahrheit unglückliche Vertreter unserer Welt. Sie haben deren Pluralität, Komplexität, Vielschichtigkeit aufgesogen: Sie sind angepasst. Ein Teufelskreis, den man leicht mit einer einfachen Gefühlsäußerung durchbrechen könnte.


Alf Brustellin