Die Regisseure über ihren Film - Taugenichts des 20. Jahrhunderts

Berlinger ist die Geschichte des Wissenschaftlers und Industriellen Lukas Berlinger. Sie umfasst 60 Jahre deutscher Geschichte. Wir haben versucht, diese Geschichte in unserem Film zu erzählen.

Berlinger ist aber auch die Chronik einer Freundschaft. Der Freundschaft zwischen Berlinger und Roeder, die in Gegnerschaft endete. Roeder, der sich den jeweiligen historischen und politischen herrschenden Strömungen angepasst hat und von  der damit verbundenen Machtposition aus versucht, Berlinger in das jeweils herrschende System einzubringen, scheitert daran, dass Berlinger sich diesem Zugriff jeweils zu entziehen weiß.

Wenn Berlinger auf die Erpressungen seines „Freundes" mit Flucht, Emigration, Negierung reagiert, hinterlässt er zunehmend Opfer, Menschen, die Berlinger lieben oder geliebt haben, die von Berlinger verlassen worden sind. Paradoxerweise fühlt sich sogar Roeder, der Berlinger zu diesen Ausweichmanövern zwingt, selbst als ein solches Opfer Berlingers.

Berlinger und Roeder verkörpern widersprüchliche Systeme. Berlinger erlebt die „freundlichen Weiten" als befreiend auf seiner Flucht vor der ihn ängstigenden Welt der Objekte. Roeder klammert sich an diese Objektwelt; wenn sie zerstört wird, baut er sie wieder auf. Wird er gezwungen, Abstand zu nehmen von den geliebten Objekten, entstehen für ihn die furchterregenden Zwischenräume", vor denen er Angst hat.

Das entspricht in etwa der Verschiedenheit von Aristokrat und Underdog. Das heißt nun aber nicht, dass Berlinger ein Aristokrat ist. Eine gemeinsame Haltung haben jedoch beide: die des Konservativen. Berlinger ist ein Konservativer im Eichendorffschen Sinne, sozusagen ein Taugenichts des 20. Jahrhunderts, der in seiner erhaltenden Haltung sehr viel progressiver ist, als alle die, die den Fortschritt predigen, den Fortschritt um jeden Preis. Die produktiven Roeders, die in ihrer reaktionären, nur das herrschende System unterstützenden Haltung scheinbar konservativ sind.

Hinweise zu den Hauptfiguren

Als wir dann so weit waren, das Filmprojekt „Berlinger" in Angriff nehmen zu können, war eher ein Romanfragment als ein Drehbuch da. Und Berlinger selbst hatte alle Eigenschaften eines gänzlich literarischen Helden, überfrachtet mit Texten und Gebärden. Berlinger als eine Art Gargantua des Maschinenzeitalters, der seine Fresslust aus dem Kühlschrank befriedigt.

Erst als wir auf Martin Benrath kamen und ihn gewinnen konnten, den „Berlinger" zu spielen, verlor die Figur das fast sagenhaft Barocke, die papierene Demonstration eines Lebensgefühls. Berlinger hatte ein Gesicht — und Benrath eine der schwierigsten Aufgaben, die man sich vorstellen kann: in einem Film, der aus heutigen, realistischen Partikeln zusammengesetzt sein sollte, zwei Lebensalter zu spielen: einmal über dreißig und einmal über sechzig. Benrath selbst ist genau in der Mitte. Er gestaltete die nötige Maskerade nicht zu einem Mummenschanz, sondern brachte über das ja eher theatralische Mittel hinweg für beide Lebensalter dieselbe Identität und Intensität auf. Die größte schauspielerische Leistung und die größte schauspielerische Intelligenz liegt sicherlich darin, dass man diese Leistung nicht spürt. Berlinger/Benrath ist sozusagen selbstverständlich mal jung, mal alt. Und dieses Selbstverständnis setzt sich zusammen aus vielen, vielen Details, für die Kleidung und Maske nur die Hülle sind: Gehen, schauen, sprechen, ein Gefühl solange denken, bis es sichtbar wird...

Berlinger, diese nur durch vielerlei Aussagen zu beschreibende Figur eines unheroischen Helden, bekam für uns alle Züge, die wir uns wünschten. Benrath gab ihm die Qualität eines Filmprotagonisten, der eben soviel Aufregung wie Geheimnis hinterlässt, wo immer er zum Zuge kommt — und gleichzeitig zeigte er einen Mann, der verstehbar und erfühlbar nicht wegkommt von seiner Position am Rande der Gesellschaft ... eine Mischung aus Kinomärchen und Realität.

 

Ein Gefühl sichtbar machen - über Marin Benrath

„Berlinger" ist die Geschichte der Konfrontation eines zwar faszinierenden, aber auch einsamen, zutiefst individualistischen Lebenskonzeptes mit einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das solche Lebenskonzepte nur dann zulässt, wenn sie sich, wie im Fall Berlinger, für das System als nützlich erweisen.

Berlinger war aufgrund seines Lebenskonzeptes unfähig, sich dieses Zusammenhangs bewusst zu werden, oder gegen ihn zu leben, obwohl anzunehmen ist, dass er ihn zuweilen durchschaute; immerhin stellte er seiner industriellen Verwertbarkeit in entscheidenden Situationen eine bedingungslose Moral entgegen. Das machte selbst ihn zum potentiellen Opfer. Aber letztlich hielt er durch: er besorgte die Organisation seines Untergangs selbst.

Berlinger war zutiefst begabt, sich selbst zu verwirklichen. Er tat es leidenschaftlich und bedingungslos. Er hasste nicht ein System, sondern Systeme schlechthin, auch wenn sie sich in seinem eigenen Kopf breit machten. Die Erkenntnis seiner Rolle innerhalb der Welt, in der er sein, wie es schien, freies Leben führte, zersetzte am Ende den Glauben an die Qualität dieses Lebens. Er war trotz Studium und wissenschaftlicher Erfolge ein Abenteurer und ein leidenschaftlicher Flieger. Aber er war auch einer, der den freien Markt mit der Muttermilch eingesogen hatte und die soziale Verpflichtung eines jeden niemals akzeptierte. Er war ein anarchistischer Glücksritter, ein Sonntagsjunge, ein raffinierter Spieler, auf jeden Fall ein amoralischer Eulenspiegel unserer Ordnung. Er hatte immer nur sich selbst im Kopf und im übrigen wurde ihm alles zu Geld, was er in die Hand nahm, auch seine verrücktesten Ideen. Zwei Frauen spielen in seinem Leben eine Rolle. Man könnte sagen, er hat sie beide auf dem

Gewissen. Sicher ist, dass er am Tod der ersten nicht unschuldig ist, und sicher ist, dass seine zweite Frau nur deshalb eine Chance bekommt zu überleben, weil sie 30 Jahre jünger ist als er. Dein System,Berlinger, sagt sein Gegenspieler, dein System hat einen Nachteil. Es funktioniert nur für dich allein.

Berlingers Geschäfte: Als Fabrikbesitzerskind alle Vorteile einer erstklassigen Erziehung. Erstes eigenes Geld durch Sommerarbeit in der väterlichen chemischen Fabrik, nebenbei zahlreiche chemische Experimente, später Studium der Chemie, erste Patente im achten Semester, Promotion nach dem zwölften Semester, danach als kriegswichtig eingestufter Wissenschaftler alle Möglichkeiten zur freien Entfaltung. Nebenbei private Fliegerei — das Privileg, ein eigenes Flugzeug zu besitzen. Bis 1942 gelingt es Berlinger, sich sowohl dem staatlichen als auch dem militärischen Zugriff zu entziehen. Ohne ein politisches Konzept mit dieser Tätigkeit zu verbinden, fliegt er gefährdete deutsche Persönlichkeiten nachts über die Grenze nach Frankreich oder in die Schweiz. 1942, von allen Seiten bedrängt, Flucht nach Südamerika, teilweise mit Unterstützung der französischen Résistance. Berlinger besitzt jetzt einen schwedischen Pass, wird also auch nach dem Eintritt Argentiniens in den Krieg nicht interniert. Berlinger besitzt bald beste Verbindungen zur amerikanischen Geschäftswelt, die sich in Südamerika tummelt. Es gelingt ihm, einige kleine Patente unterzubringen, außerdem ist er der Unterstützung der von ihm Geretteten gewiss. Nach dem Krieg versammelt Berlinger versprengte deutsche Jagdflieger um sich, er baut eine Fliegerstaffel zur Ungezieferbekämpfung in Monokulturen auf. Danach einige Jahre in Kanada. Berlinger baut in den einsamsten Gebieten Flugplätze, rüstet sie mit einer von ihm erfundenen Notbefeuerung aus. Anfang der 60er Jahre taucht Berlinger wieder in Europa auf. Er lässt sich vorläufig in Schweden nieder, züchtet Auerochsen, hat glänzende internationale Geschäftsverbindungen, lebt von Industrieberatung. Ende der 60er Jahre taucht Berlinger wieder in Deutschland auf. Er steht vor der zerstörten Fabrik seines Vaters, beschließt, seinen ererbten Besitz weiter verfallen zu lassen, und beginnt, Zeppeline zu bauen.

Johannes Roeder

Berlingers Kindheits-, Jugend-, Studienfreund. Aus einfachen Verhältnissen stammend, sein Vater war Arbeiter in der Berlingerschen Fabrik, kam durch einen Unfall ums Leben. Roeder wurde daraufhin von der Berlinger-Familie aufgenommen. Sein Verhältnis zu Berlinger ist von vornherein durch Konkurrenz geprägt, durch das Gefühl der eigenen Chancenlosigkeit, auch der eigenen Minderwertigkeit. Hinzu kommt eine sehr starke Bewunderung für den Freund, für dessen Phantasiebegabung, für dessen anarchistischen Freiheitstraum.

Während Berlinger immer mehr seine eigenen Wege geht, sich zunehmend den ihm gestellten Aufgaben entzieht, bastelt Roeder an der Karriere in der Fabrik des Herrn Berlinger und an seiner Karriere in der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands, der er keineswegs aus Opportunismus beigetreten ist, sondern aus der tiefen Oberzeugung heraus, dass der einzelne nicht das Maß aller Dinge ist, sondern, wie Roeder sagt, das Gemeinwesen, dieses Gemeinwesen sieht er optimal vertreten durch die Partei.

Nach dem Tod von Berlingers Vater übernimmt Roeder die Leitung des inzwischen als kriegswichtig eingestuften Betriebes. Berlinger jr. lässt ihn gewähren. Er weiß noch nicht, dass Roeder den Auftrag hat, ihn, Berlinger, zur Räson zu bringen. Als sich Berlinger durch seine Flucht dem Zugriff von Roeder, damit von der Partei, entzieht, ist auch für Roeder die Karriere zu Ende. Er wird aus der NSDAP ausgeschlossen, was ihm nach dem Krieg sehr schnell auf die Sprünge hilft. Roeder war rechtzeitig davon überzeugt, dass eine Partei, die zu solchen Ungerechtigkeiten fähig ist, nichts taugt und nicht verdient, zu überleben. Roeder empfindet sich am Ende des Krieges als Verfolgter des Nationalsozialismus, als einer, der für die öffentliche Gerechtigkeit kämpfte, und dem sie selbst nicht zuteil wurde. Eine neue Einsicht: Dieser noch nicht existierende Staat, den es nunmehr gilt aufzubauen, wird eine größere Gerechtigkeit und einen weiteren Schutz zur gerechten Behandlung jedes einzelnen garantieren. Roeder entscheidet sich, seine ganze Kraft dem Aufbau dieses Staates zu widmen. Folgerichtig gehört er von 1949 bis 1953 dem ersten Bundestag an. Am Ende dieser Periode schon wieder eine Einsicht: der Wirtschaftler ist dem Politiker überlegen. Folgerichtig geht Roeder in die Wirtschaft. Sein neuer Ruf, sein Einfluss als Politiker der ersten Stunde prädestinieren ihn für den Immobilienmarkt. Roeder sieht die Zukunft und er sieht: die Zukunft heißt bauen. Es folgen 20 Jahre erfolgreicher, befriedigender, geschäftlicher Tätigkeit, jetzt ist Roeder bereit für seine größten Pläne. Die gedeihen prächtig bis zu dem Augenblick, als Berlinger wieder auftaucht. Dieses Zusammentreffen löst einen Kampf aus, in dem vernünftige Argumente, klärbare Widersprüche, durchaus rationale Gegensätze nur scheinbar die Hauptrolle spielen. In Wirklichkeit wird dieser Kampf, je mehr er sich dem Höhepunkt nähert, immer irrationaler.

Maria Hereth

30 Jahre alt, Lehrerin. Eine Idealistin ganz sicher, vielleicht eine Träumerin. Nach einigen intensiv erlebten Jahren in der Großstadt, nach erfolglosen Straßenschlachten, Diskussionen und ebenso erfolglosen Männergeschichten, Flucht in die Kleinstadt. Dorthin, wo man vielleicht wirklich gebraucht wird. Dort neben dem Lehrerberuf kommunalpolitische Tätigkeit: etwas tun für die Allgemeinheit, praktisch sein. Die private Einsamkeit genießen. Mit dem Gefühl der Ohnmacht fertig werden. Als sie auf Berlinger trifft, einem Mann, der außer einem abenteuerlichen Leben Macht zu bieten hat und Phantasie und Ideen, die scheinbar auch die ihrigen sind; als sie sich entschließt, diese unmögliche Liebesgeschichte mit einem 30 Jahre älteren Mann zu beginnen, da ahnt Maria nicht, dass sie nur das Spiegelbild einer anderen Frau ist — einer längst toten.

Anatol Laski

28 Jahre alt. Ein Mann, der ständig unter Druck steht. Mit 19 hat er das Gymnasium verlassen, ein Jahr vor dem Abitur, dann im Metallbau tätig, wegen großer Geschicklichkeit und technischem Verstand Aussicht auf eine Karriere, aber Laski geht in ein großes elektronisches Werk, beginnt dort eine Lehre, nach zwei Jahren beendet er sie. Er lässt sich über einen Fernkurs zum Automechaniker ausbilden, betreibt eine kleine Werkstatt in einem Hinterhof, ohne Buchführung, auch sonst ohne jegliche kaufmännische bzw. steuerrechtliche Kenntnisse; als er unsanft von dem Finanzamt darauf hingewiesen wird, lernt Laski über Fernkurs Kaufmann und frisiert nebenbei für Freunde und Bekannte Motoren aller Art. Laski hat im Laufe seines Lebens wenig Zeit für sich selbst. Er trinkt viel Kaffee, er schläft wenig, er arbeitet viel. Auf der ständigen Jagd nach einem beruflichen Glück entwickelt er ein sehr großes Tempo.

Es ist ein Zufall, dass Laski auf einen, wie er glaubt, alten und reichen Spinner trifft, der gerade im Begriff ist, eine Werft für den Zeppelinbau aufzubauen. Aber für Laski bedeutet dieser Augenblick das große Glück. Und Berlinger imponiert der technische Verstand und die technische Leidenschaft Laskis. Er macht ihn zu seinem Chefmonteur, auch privat zu seiner rechten Hand. Laski entwickelt sich zu Berlingers Stiefsohn ohne es zu wissen. Es wäre ihm auch egal. Er will Zeppeline bauen und er fühlt sich zum ersten mal stark genug, sein eigener Unternehmer zu werden. Als Berlinger beginnt, seinen Untergang zu organisieren, sieht Laski sein Leben zerstört. Mit all seiner Energie versucht er nun die Chance, die ihm einmal gegeben wurde, zu erhalten. Am Ende geht es ihm nicht nur um die Werft, sondern auch um Maria.