Aus der Parsifal-Soirée am 08. Oktober 1994

BERNHARD SINKEL: Wagner ist im „Parsifal" etwas gelungen, was ihn aus allen anderen Komponisten und Opernschriftstellern heraushebt. Er hat einen neuen Mythos, eine neue Mythologie geschaffen, indem er zwei mythologische Figuren und ihre Welten neu zusammenführt. Parsifal, aus der keltischen Artussage kommend und mit großer Nachwirkung auf die europäische Literatur: diese Mythologie besteht darin, dass er nicht fragt. Und der zweite mythologische Kreis, den Wagner zu-ordnet, ist der Ödipus aus der griechischen Mythologie: mit einem, der zu viel fragt und zu viel weiß und deshalb das Rätsel der Sphinx löst.


Wagner gelingt es, Parsifal und Ödipus in einem neuen Mythos zu vereinen. Und: das ist eine Erfindung, die er Kundry zuordnet, einer Figur, die niemand aus der Historie so gekannt hat, die nunmehr aus verschiedenen Elementen besteht. Kundry selbst ist in ihren vielerlei Gestalten hochinteressant. Nicht nur als ein Fall der Psychopathologie, als ein Krankheitsbild der Schizophrenie oder was sonst. Kundry ist ebenfalls eine mythologische Figur, worin sich, in Wagners Verständnis, verschiedene Formen von Weiblichkeit spiegeln. Und Wagners Verhältnis zu den Frauen — zu seiner Mutter, zu seinen Schwestern — ist immer wieder ausgebreitet worden.


WOLFGANG HOFER: Die Kreise um Kundry, dieses so wunderbar weltdämonische Weib, dann Amfortas, dieser ins Unermessliche gesteigerte Tristan, der sich selbst entleibende Zauberer, der liebessieche Oberpriester, der reine Tor schließlich und ihrer aller alter Meister - was Wagner da für ein Arsenal von Absurditäten unter musikalischer Hülle versammelt hat. Sollte das in der Tat, wie Cosima notierte, seine „letzte Karte" sein? Oder spielt in die musikalische Konzeption des „Parsifal" heutzutage das Wissen um seine weiteren musikalischen Pläne hinein: seine Idee von den symphonischen Dialogen und dergleichen Zukunftsmusik?


EBERHARD KLOKE: Wagner brauchte den außermusikalischen Überbau, den mythologischen Unterbau, um sich quasi in Rage schreiben zu können. „Parsifal" ist grundsätzlich etwas ganz anderes: ein Stück, das herausfällt, weilder Schöpfer Wagner nicht mehr über so viele Primärkräfte verfügte, wie es noch zu Zeiten von „Tristan" und „Götterdämmerung" der Fall war. Das ganze Parsifal-Material ist im Grunde gar nicht so groß. Wagners Erfindungsreichtum bezieht sich weder auf Melodik noch auf Rhythmik, sondern er besteht in der Machart. Darin ist „Parsifal" sicher das Modernste, das 1882 hat geschrieben werden können. Und interessanterweise sind vom „Parsifal" — was die musikgeschichtliche Nachfolge anbelangt - die allergrößten Wirkungen ausgegangen. Man denke an Debussy, Mahler und Strauss, die ganze Musik des fin de siècle: alles dies nahm seinen Ausgangspunkt vom „Parsifal" und seiner Machart. Dieses Nebeneinander verschiedener Motive und Figuren, das Übereinandersetzen von unaufgelösten Dissonanzen: alles das weist in das 20. Jahrhundert.

Erlöser sind Vermittler, Toröffner, Furtbereiter zu einem guten Ende. In der Ökologie des Geistes treten Erlösergestalten auf, wenn die zum Beseelungsabenteuer aufgebrochenen Angehörigen der evolutionär riskanteren Kulturen massenhaft in existentielle und psychologische Krisen geraten sind. Die Idee der Erlösung selbst der „Schatten" einer Weltgeschichte der Verzweiflung.


Peter Sloterdijk