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Taschenbuch: 260 Seiten
Verlag: Dtv (November 2005)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3423245026
ISBN-13: 978-3423245029
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Der dritte Sumpf - Leseprobe
Das Raubtier
Unter Trommelwirbel und Gewehrschüssen, als hätte man ihn zum Tode verurteilt, wurde der Bräutigam von seinen Brüdern über den Dorfplatz zum Haus der Braut geführt. In seine schwarzen Locken war ein Kranz weißer Hibiskusblüten geflochten, und in der Hand hielt er ein Maschinengewehr, dessen Lauf mit bunten Bändern geschmückt war. In Hosum al Dschalal, dem kleinen Bergdorf am Rande der großen Wüste Ramlat as-Sab’atayn, feierte der Beduinenclan der Beni al-Hared schon seit Tagen das »Fest der Freude«. Als endlich am späten Nachmittag der Brautvater und der Bräutigam den Ehevertrag mit dem Segen des Imam feierlich unterzeichnet hatten und die Braut, bis auf die Augenpartie völlig in Grün gehüllt, auf den Balkon des Hauses trat, brach draußen ein unbeschreiblicher Jubel aus, und alle männlichen Hochzeitsgäste tanzten zur Feier des Tages den al-raqsah al-’adia. Mit eleganten Gesten verbeugten sie sich paarweise voreinander, fassten sich an den Händen, drehten sich zunächst anmutig, dann immer schneller um ihre eigene Achse, stampften und sprangen schließlich mit gezückten Dolchen und wild gestikulierend im aufreizenden Rhythmus der bar’a-Trommeln in die Luft. Ausgelassen und ahnungslos, schossen sie ganze Gewehrsalven zum Ausdruck ihrer Freude in den kobaltblauen Himmel über der Wüste. Die Reichweite ihrer Kugeln jedoch war zu gering, um das Raubtier zu gefährden: die MQ-1A Predator Hunter/Killer, eine unbemannte Drohne, die schon seit Stunden unbemerkt in sieben Kilometern Höhe wie ein Geier über ihren Köpfen kreiste und das fröhliche Treiben mit ihrer hochauflösenden TV-Kamera, variablem Zoom und einem 955-mm-Spotter verfolgte.
»Haben wir eine klare Situation?« Zehntausend Kilometer vom Festplatz entfernt, auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans, stand Jacky Dee, General Counsel des Counter Terrorism Center der CIA, nachdenklich vor einem der unzähligen Flachbildmonitore an den Wänden der abgedunkelten Kommandozentrale. Die Hochzeitsbilder aus dem Jemen wurden von der Predator via Satellit in Echtzeit nach Langley übertragen. Es war ein grauer Morgen im Bundesstaat Virginia, grau wie die Gesichter der übernächtigten Mitarbeiter der Spezialeinheit P2OG, der Proactive Preemptive Operations Group, deren Aufgabe es ist, Terroristen zu finden und zu vernichten, bevor diese angreifen. Target Killing hieß die neueste Taktik der CIA: den Feind töten auf Verdacht. John Connally, der hemdsärmelige Case Officer der Operation, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, reckte sich und gähnte. »Immer mit der Ruhe, Ma’am! Abu Khouf wird noch kommen!« Die Leiterin der Antiterrorabteilung deutete auf den Monitor. Das Fernsehbild zeigte, wie jetzt die Braut in einer übermütigen Prozession zum Haus des Bräutigams geleitet wurde. »John – wir müssen erst ganz sicher sein, dass der Vater des Entsetzens auch wirklich unter ihnen ist!« Connally spürte ihre Skrupel. Sie hatte Angst davor, einen Fehler zu begehen. »Der Scheich der Beni al-Hared und seine Adjutanten lassen sich doch eine solche Gelegenheit nicht entgehen! Nach dem Anschlag auf den Zerstörer USS Nixon war Abu Khouf wie vom Erdboden verschluckt. Aber die Hochzeit seines jüngeren Bruders wird ihn aus seinem Wüstenloch direkt vor unsere Flinte treiben. Mit ein bisschen Glück können wir auf einen Schlag den ganzen Terroristensumpf im Jemen trockenlegen. Sie brauchen nur auf den Knopf zu drücken, Ma’am.« Regenschauer prasselten gegen die verdunkelten Fensterscheiben, Ausläufer eines Tropensturms, der in der Nacht über Washington hinweggefegt war. Niemand kümmerte sich um das Rauchverbot, dicker Zigarettenqualm hing über dem runden, mit Aufklärungsfotos übersäten Tisch. Es herrschte gespanntes Schweigen. Alle Blicke waren auf die Chefin gerichtet. »Gentlemen, wir müssen uns klar darüber sein, es wird auch Unschuldige treffen.« »Darauf können wir keine Rücksicht nehmen.« Wenn sie nicht bald den Befehl zum Abschuss gab, schloss sich das Zeitfenster, und diese einmalige Chance war vertan. Als Connally merkte, dass sie noch immer zögerte, legte er nach. »Denken Sie an die siebzehn Toten auf der USS Nixon, die diese Massenmörder auf dem Gewissen haben, Ma’am! Das waren alles Unschuldige –« »Also gut. Wer weiß, wann wir wieder in eine so günstige Schussposition kommen. Schließlich befinden wir uns im Kriegszustand mit ihnen. Netzwerk gegen Netzwerk!« Connally atmete hörbar auf. »Okay – dann also an die Arbeit!« Er drückte die Sprechertaste. »Mission Control -«
Flight Captain Sam Vanzanten und seine Copiloten, die das Raubtier mit ihrem Joystick schon seit Stunden über dem Dorf am Rande der Wüste kreisen ließen, brauchten nur wenige Sekunden, um auf die Tasten ihrer Keyboards einzuhämmern und die codierte Antwort auf ihren Bildschirmen zu sehen. »Wir sind soweit, Sir!« Die Bodenstation des unbemannten Flugzeugs parkte, zehntausend Kilometer von der Einsatzzentrale in Langley entfernt, am Indischen Ozean zwischen den Unterkünften der Com¬bined Joint Task Force und dem Militärflughafen von Djibuti. Die Luft war schwefelgelb. Ein Sandsturm tobte um das ehemalige Camp der französischen Fremdenlegion. Der schwerere Sand zischte wie ein fliegender Teppich dicht über den Boden durch das Barackenlager, während die feineren Körner durch alle Ritzen drangen. Von hier war die Drohne am Morgen aufgestiegen, und von hier aus, von einem unauffälligen Militärlastwagen in Camp Lemonier am Horn von Afrika, wurde das unbemannte Flugzeug in fünfhundert Kilometern Entfernung über zwei Monitor-Konsolen überwacht und geflogen. »Nehmen Sie das zweistöckige Haus neben dem Festungsturm am südlichen Dorfausgang ins Visier. Warten Sie noch –« »Yes, Sir!« »Ich sage Ihnen, wann –« »Ich gehe mit der Kamera näher ran.« »John – ich will eine klare Situation!« »Keine Sorge Ma’am, da kommen Sie schon –«
Am Festungsturm traf ein blauer Pritschenwagen ein. Bärtige Männer, verwegen aussehende Gesellen, sprangen schwer bewaffnet von der Ladefläche. »Volltreffer!« In nicht enden wollenden Grußformeln wurden die Neu¬ankömmlinge von Braut und Bräutigam empfangen. »Salamu alejkum – Friede sei mit euch.« »Alejkum as-salam – Friede sei auch mit dir.« »Möge Allah euch beschützen.« »Möge Allah mit dir sein.« »Kein Übel möge euch treffen.« »Auch dir möge kein Leid widerfahren.« Mit unzähligen Handschlägen und angedeuteten Küssen auf Mund und Handrücken begrüßten die Männer das Brautpaar. Auf dem Weg ins Haus konnten sie das rasch näherkommende Fauchen nicht hören. Von einem Radarstrahl geleitet, kam die AGM-114-Hellfire-Rakete mit Überschallgeschwindigkeit auf das Dorf zugerast. Vielleicht ahnten einige der Gäste etwas von dem Unheil, das auf sie zugeschossen kam. Braut und Bräutigam schauten Hand in Hand in den Himmel, und Bruchteile von Sekunden dehnten sich aus zu einer endlosen Zeit, die alle Erinnerungen an ihr Leben und ihre Liebe umschloss. Erst als sie das lasergeleitete Geschoß am Himmel sahen, konnten sie einen aggressiven Pfeifton hören. Die Detonation aber hörten sie nicht mehr. Die Rakete hatte sich in den Marktplatz gebohrt und zündete erst einige Meter unter der Oberfläche. Mit der Explosion stürzte die Erde nach innen und zog alles Lebendige mit sich in die Tiefe. Die Druckwelle schleuderte die todbringenden Schrapnells mit ihren zerfetzten Körpern in den Himmel. Steine, Körperteile und Metallsplitter regneten herab, und was danach in den Himmel stieg, war nur noch Rauch und Asche. Noch im Augenblick des Todes spürte der Bräutigam, wie ihn die Liebe zu seiner Frau durchflutete. Er hielt ihre Hand, und Sekundenbruchteile später gähnte dort, wo das Brautpaar gestanden war, ein Loch im Boden. Als die Zeit wieder einsetzte, konnten die wenigen Überlebenden nur langsam begreifen, was geschehen war. Ihre Festtagskleider färbten sich rot. Blutüberströmt wälzten sie sich am Boden, ein heilloses Durcheinander aus Armen, Beinen, Köpfen und Rümpfen. Fassungslos starrten sie auf das Blut, das aus ihren amputierten Gliedern strömte, mit Gesichtern wie Rahmen, die nur noch zum Schutz ihrer weit aufgerissenen Augen taugten. Ihre Körper zuckten und wanden sich, sie schrien und schnappten nach Luft. Die Frau neben dem Autowrack brannte wie eine Fackel. Sie spürte die Flammen nicht mehr, ihr Schmerz war ohne Gefühl. Sie würde ersticken. Das Feuer brauchte allen Sauerstoff für sich allein. Die Adern schwollen an ihren Schläfen. Sie stieß einen nicht enden wollenden Schrei aus, dann brach sie zusammen. In einer Ecke saß eine Alte und schluchzte. In der Blutpfütze ihres Schoßes lag der Kopf eines wimmernden Mädchens. Ein Stahlgeschoss hatte ihm die Brust zerrissen, die Lunge aus seinen Rippen gefetzt. Es dauerte nicht lange, und das Wimmern verstummte. Sein Tod war einfach. Das Stöhnen der Sterbenden und das Geschrei der Verletzten stieg in den Himmel. Hier oben aber konnte niemand sie hören. Das unbemannte Raubtier hatte abgedreht. Es hatte nur eine Videokamera an Bord, aber keine Mikrofone, die ihre Schreie in die Kommandozentrale nach Langley übertragen konnten.
Niemand dort verfolgte mehr die Live-Übertragung auf dem Monitor. Alle lagen sich jubelnd in den Armen, als wäre Apollo noch einmal auf dem Mond gelandet. Sie ahnten nicht, dass sie das falsche Ziel getroffen hatten.